Dystonien

Die Dystonie ist eine organische neurologische Bewegungsstörung. Sie kann in jedem Alter auftreten und jeder kann davon betroffen werden. Etwa 80.000 Menschen in Deutschland leiden darunter, darunter 15.000 Kinder und Jugendliche. Sie entsteht in den sogenannten Bewegungszentren im Gehirn. Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig. Charakteristisch sind unwillkürliche Verkrampfungen von Muskeln. Dadurch werden ungewöhnliche Körperhaltungen und -bewegungen ausgelöst, die sich an unterschiedlichen Körperregionen äußern können.

Zu den Dystonien zählen:

Schiefhals (Torticollis spasmodicus)

Torticollis heißt übersetzt „verdrehter Hals“. Der Beiname „spasmodicus“ soll zum Ausdruck bringen, dass in vielen Fällen der Kopf nicht nur verdreht ist, sondern oft auch von einer Bewegungsunruhe (Kopfwackeln oder Kopfzittern) – zumindest bei bestimmten Kopfbewegungen – begleitet sein kann.

Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch eine langsame Drehung des Kopfes um eine vertikale Achse zu einer Seite, meist kombiniert mit einer leichten Neigung des Kopfes und wird den fokalen Dystonien zugeordnet. In anderen Fällen kommt es zu einer Vorwärts- oder Rückwärtsneigung des gesamten Halses. Gelegentlich ist das Bewegungsmuster auch ruckartig, es kommt zum Teil zu einem Zittern (Tremor) der je nach Bewegungsmuster als Ja-Ja-, Nein-Nein- oder Ja-Nein-Tremor bezeichnet wird. Die für die Bewegung verantwortlichen Muskeln verdicken sich (Hypertrophie).

In Deutschland sind nach einer Studie etwa neun Einwohner von 100.000 von dieser Krankheit betroffen. Man schätzt, dass die tatsächliche Häufigkeit zwei- bis dreimal so hoch ist. Die Erkrankung tritt meist um das 40. Lebensjahr herum auf und kann sich sehr rasch („über Nacht“) oder aber über einen Zeitraum von einigen Monaten langsam voranschreitend entwickeln. Oft sind Nackenverspannungen oder Kopfzittern Anfangssymptome noch bevor die Fehlstellung des Kopfes auffällt. Viele Patienten klagen neben der Fehlstellung auch über starke Schmerzen.

Man unterscheidet beim Schiefhals nach den drei Hauptbewegungsrichtungen des Kopfes:

  • Rotatorischer Torticollis: Drehung um eine vertikale Achse
  • Laterocollis: seitliche Kippung auf die Schulter
  • Retro-/Anterocollis: Neigung nach vorne oder hinten

Die häufigste Form ist der rotatorische Torticollis, gefolgt von Kombinationen aus Torticollis und Laterocollis.

Nach neuesten Erkenntnissen von Prof. Reichel (Zwickau) kann man den Schiefhals noch weiter differenzieren. Wenn die dystone Fehlhaltung weiter oben, also nur im Gelenk zwischen Hinterhaupt des Schädels und Atlas (1. Halswirbel), dem sog. atlantoaxialen Gelenk lokalisiert ist dann spricht man von Torticaput, Laterocaput bzw. Retro- und Anterocaput.

Die Ursache für die Entstehung der zervikalen Dystonie ist noch nicht geklärt. Vermutet wird eine Störung im Bereich des extrapyramidalen Systems (Basalganglien).

Bei einem Teil der Patienten, bei denen eine auffällige familiäre Häufung von Erkrankungsfällen beobachtet wurde, gibt es Hinweise auf eine genetische Ursache.

Den Ausschlag für die Diagnose des Schiefhalses gibt das Erkennen der typischen Bewegungsmuster. Zusätzliche neurologische Symptome wie Lähmungen, unkoordinierte Bewegungen, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen weisen auf eine andere Erkrankung hin. Bei nur zirka fünf Prozent der Betroffenen ist der Schiefhals ein sekundäres Symptom einer anderen Erkrankung.

Von einer medikamentösen Therapie (insbesondere mit Anitcholinergika) profitiert weniger als die Hälfte aller Patienten mit einer zervikalen Dystonie. Diese ist außerdem mit erheblichen systemischen Nebenwirkungen belastet. Deshalb wird die Therapie mit Botulinum-Toxin bei dieser Indikation mittlerweile als Therapie der Wahl angesehen.

Über ein zufriedenstellendes Ergebnis (hierzu zählt neben der Besserung der Fehlhaltung auch eine Schmerzlinderung) wird nach der Literatur in 60 bis 90 % berichtet. Patienten mit einem kürzeren Verlauf profitieren stärker von einer Therapie mit Botulinumtoxin als Patienten mit einer schon länger bestehenden Erkrankung.

Hilfe und weitere Informationen finden Patienten auch bei den Torticollis-Selbsthilfegruppen

Ultraschall-unterstützte Botulinumtoxin-Therapie bei zervikaler Dystonie

Ultraschall-unterstützte Botulinumtoxin-Therapie bei zervikaler Dystonie

 

Blepharospasmus (Lidkrampf)

Blepharospasmus stammt aus dem Griechischen und heißt übersetzt: Lidkrampf. Das wesentliche Merkmal der Erkrankung ist ein willkürlich nicht kontrollierbares Augenzwinkern. Zu Beginn ist dieses Augenzwinkern kaum von einem normalen Zwinkern zu unterscheiden. Mit der Zeit nimmt es jedoch krampfhafte Formen an, so dass zuletzt die Augen kaum noch offengehalten werden können und es zu einer echten Sehbehinderung kommt. Daraus resultiert eine hochgradige Beeinträchtigung des täglichen Lebens (Lesen, Autofahren, Fernsehen).

Abgegrenzt werden können der tonische Blepharospasmus sowie der Lidöffnungs-Inhibitions-Typ (Lidapraxie). Die Störung kann zu einer funktionellen Blindheit führen.

Die Krankheit ist sehr selten (ein Patient auf ca. 10.000 Einwohner). Dadurch ist zu erklären, dass die richtige Diagnose zuweilen nicht auf Anhieb von dem zu Rate gezogenen Arzt gestellt wird. Betroffen sind vorwiegend, aber nicht ausschließlich, Menschen in der zweiten Lebenshälfte, Frauen etwas häufiger als Männer.

Vor der Einführung des Toxins standen wenig hilfreiche (Hypnose, Biofeedback, Akupunktur, Physiotherapie) und stellenweise sehr belastenden Therapiemaßnahmen (u. a. Operation) zur Verfügung. Die medikamentöse Therapie mit Anticholinergika, Baclofen und Benzodiazepinen führte nur bei einem Teil der Patienten zu einem Erfolg, der häufig auch nur wenige Monate anhielt. Die Ergebnisse mit Injektionen von Botulinumtoxin sind bedeutend besser (gute Besserung in mehr als 90% der behandelten Fälle) und die Behandlung mit Botulinumtoxin gilt international inzwischen als Therapie der Wahl.

Die Ursache des Blepharospasmus ist nicht sicher geklärt. Der Ursprung der Krankheit beruht auf einer Störung des Zusammenwirkens verschiedener chemischer Stoffe in einer bestimmten Region des Gehirns (Basalganglien), die genauen Mechanismen sind jedoch nicht bekannt. Obwohl es sich um eine organische Erkrankung handelt, gibt es zahlreiche Abhängigkeiten und Einflüsse von äußeren Umständen oder auch der seelischen Befindlichkeit. Regelmäßig berichten Patienten, dass sie stärkere Beschwerden bei Stress und Ärger haben. Sobald sich die Patienten hinlegen oder auch schlafen, sind sie meist beschwerdefrei. Manche Patienten sind bei speziellen Tätigkeiten z. B. beim Bügeln beschwerdearm oder beschwerdefrei.

Botulinumtoxintherapie bei Blepharospasmus

Botulinumtoxintherapie bei Blepharospasmus

Bewährt hat sich ein standardisiertes Schema mit subkutanen Injektionen am medialen und lateralen Rand des Oberlids sowie an einer bis zwei Stellen des Unterlids. Eine Injektion in der Mitte des Oberlides sollte vermieden werden, da hieraus eine Ptose aufgrund der Parese des M. levator palpebrae superior resultieren kann. Mit systemischen Nebenwirkungen ist bei der üblichen Injektionsmenge nicht zu rechnen. Mögliche unerwünschte Wirkungen sind vor allem ein lokales Hämatom, eine Ptose (im eigenen Kollektiv deutlich unter 10%), eine Keratokonjunktivitis, eine Diplopie, ein unvollständiger Lidschluss und ein vermehrter Tränenfluß.

Schreibkrampf

Die Beschäftigungsdystonien unterscheiden sich von den anderen Formen der Dystonie, wie etwa dem Blepharospasmus oder dem Torticollis dadurch, dass die unwillkürlichen Muskelkontraktionen erst beim Ausführen einer spezifischen Tätigkeit auftreten. Eine typische Beschäftigungsdystonie ist der Schreibkrampf: Wenn nicht geschrieben wird, ist der Arm nicht verkrampft. Andere motorische Handlungen, bei denen sich eine tätigkeitsspezifische Dystonie manifestieren kann, sind das Spielen von Musikinstrumenten (z. B. Klavierspielerkrampf, Gitarristenkrampf, Flötistenkrampf etc.) oder manche Sportarten (z. B. „Yips“; des Golfspielers, ein Verkrampfen der Hand beim Halten des Schlägers vor dem Abschlag, beim Tennis).

In Deutschland wird die Gesamtzahl der Patienten mit Schreibkrampf auf 5600 geschätzt. Der Schreibkrampf beginnt im Durchschnitt früher als die übrigen fokalen Dystonien, etwa Mitte dreißig. Männer sind vom Schreibkrampf häufiger betroffen als Frauen. Das Verhältnis schwankt zwischen 2:1 bis 10:1. Viele Menschen, die einen Schreibkrampf entwickeln, üben beruflich eine schreibende Tätigkeit aus.

Beim Schreibkrampf kommt es sofort oder kurze Zeit nach Beginn des Schreibens zu einer Verkrampfung der Hand- und der Unterarmmuskeln, teilweise auch der Muskeln des Oberarmes und der Schulter. Eine Vorstellung davon kann man bekommen, wenn man nach vielen Seiten Handschrift „ermüdet“ und den Arm ausschütteln möchte. Im Unterschied dazu beginnt der Schreibkrampf mehr oder weniger sofort beim Beginn des Schreibens. Die Folge der Verkrampfung ist, dass der Schreibstift entweder zwischen Daumen und Zeigefinger gepresst gehalten wird und wegrutscht, oder der Zeigefinger sich abspreizt, und der Stift nicht mehr gehalten werden kann. Das Handgelenk kann sich stark beugen oder strecken, der Arm nach innen oder außen drehen. Auch der Oberarm und die Schulter können in die Verkrampfung miteinbezogen werden. Bei ca. 25 % der Patienten treten Schmerzen auf. Das Schriftbild der Betroffenen ist in unterschiedlichem Maße gestört: Es wird krakelig, die Linie kann nicht gehalten werden oder es ist komplett unleserlich bzw. das Schreiben völlig unmöglich. Manche Patienten haben eine „Schreibhemmung“ ohne ausgeprägte Verkrampfung der Muskeln.

Tritt die Verkrampfung ausschließlich bei der Tätigkeit des Schreibens auf, spricht man vom einfachen Schreibkrampf. Diese Menschen können erfreulicherweise andere differenzierte feinmotorische Tätigkeiten normal ausführen. Wenn die Verkrampfung auch bei anderen Tätigkeiten wie z. B. dem Essen mit Messer und Gabel, dem Zeichnen, Basteln etc. auftritt, spricht man vom dystonen Schreibkrampf.

Es ist u. a. der Verdienst der Londoner Arbeitsgruppe um Prof. C. D. Marsden in den 70er- und Anfang der 80er-Jahre, dass der Schreibkrampf wie auch die übrigen fokalen Dystonien als organische, neurologische Erkrankungen mit gestörter Funktion der Motorik erkannt wurden. Die genaue Ursache bleibt noch ungeklärt; möglicherweise ist die Zusammenarbeit zwischen der motorischen Hirnrinde und den Basalganglien, in denen automatische Bewegungsprogramme abgespeichert sind, gestört. Ererbte Anlagefaktoren spielen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine Rolle. Man nimmt an, dass es sich um eine Anlage handelt, die nur bei einem Teil der Menschen die Störung wirklich hervorruft, vorausgesetzt, dass bestimmte äußere Bedingungen dazukommen wie z. B. eine bestimmte Tätigkeit. Noch ist eine genaue Lokalisierung dieser vermuteten Anlage im Erbgut nicht bekannt.

Für die Diagnosestellung sollte jeder Patient auch zu Beginn der Erkrankung gründlich neurologisch untersucht werden. Bei 5 % der Patienten steckt hinter der Schreibkrampf-Symptomatik eine andere Erkrankung des Gehirns (sekundärer Schreibkrampf). Es gibt andererseits Krankheiten, deren Symptome (Schmerzen, Verkrampfung) an einen Schreibkrampf erinnern und damit verwechselt werden können. Beispiele sind der sog. Tennisellenbogen (Epicondylitis) und das Karpaltunnelsyndrom.

Die Einführung von Botulinumtoxin in die Behandlung der fokalen Dystonien hat auch für Schreibkrampfpatienten neue Möglichkeiten gebracht. Dazu kommen verschiedene nichtmedikamentöse Maßnahmen, die ebenfalls zu einer Verbesserung führen können (z. B. Änderung der Stifthaltung, dickere Griffe, Umtrainieren auf die andere Hand).

Nicht Lesen oder Schreiben zu können gilt als Schande. Der vom Schreibkrampf Betroffene fürchtet zu Recht, dass die Umgebung am Arbeitsplatz oder auch ganz fremde Personen in der Bank oder auf der Post mit Unkenntnis und Distanzierung auf seine Schreibstörung reagieren. Das Wissen um Fehleinschätzungen des Schreibkrampfes (Analphabet?) erhöht den Stress bei den Betroffenen und wirkt sich wie in einem Teufelskreis negativ auf das Schreibvermögen und damit Selbstbewusstsein aus. Jede fokale Dystonie nimmt bei Stress und Erregung an Stärke zu. Es hilft also, wenn man selbstbewusst mit seiner Störung auftritt und die Umgebung informiert. Dabei können Selbsthilfegruppen einen entscheidenden Beitrag leisten, da Angst vor negativen Reaktionen unter gleichartig Betroffenen nicht nötig ist und sie hilfreiche Tipps im täglichen Leben bieten können.


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